Keiner von beiden hatte bei seiner Ankunft einen Ausweis oder ein anderes offizielles Dokument dabei. Deshalb steht in ihren aktuellen Pässen vorläufig ein fiktives Geburtsdatum: jeweils der 01.01.1994. Auch ihr Nachname ist der gleiche: Muhammad. Der stimmt zumindest, ein Zufall. Auch wenn Iqbal und Nawaz keine Zwillinge sind – zumindest wie Brüder fühlen sie sich. Dabei kennen sich die beiden jungen Männer erst seit etwas mehr als zweieinhalb Jahren.
Ihre Geschichten beginnen im über 5.500 km entfernten Pakistan, dem sechstbevölkerungsreichsten Staat der Welt. Während Nawaz in der am Arabischen Meer gelegenen Metropole Karatschi aufwächst, wohnt Iqbal mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Bruder in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Die Familie lebt von der Landwirtschaft. „Wir hatten viele Tiere. Ich ging zur Schule, hatte Freunde. Es war ein schönes Leben“, erzählt Iqbal. Sein Berufswunsch steht früh fest: Er möchte Lehrer werden. Doch es sollte ganz anders kommen.
Ende 2007 formatieren sich die Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), eine islamistische Terrororganisation, von der sich die namentlich verwandten, afghanischen Taliban distanzieren. Durch Attentate und Geiselnahmen versuchen die Terroristen, den pakistanischen Staat zu destabilisieren und die Regierung, die sie als „Marionette“ der verhassten westlichen Welt verstehen, zu stürzen. „Egal wohin man ging, man war nirgends mehr sicher“, erinnert sich Iqbal dunkel an die Zeit, in der seine Heimat zur Bedrohung wurde. „Abends durften wir überhaupt nicht mehr raus. Die Angst, erschossen zu werden, war zu groß.“
Schon seit den 1980ern erlebt das Land einen rasanten Zuwachs an islamischen Fundamentalisten. Durch ethnische und religiöse Differenzen sind gewaltsame Auseinandersetzungen an der Tagesordnung, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten.
Land ohne Sicherheit
Blutige Übergriffe, Morde und Attentate gehören zum Alltag in der Islamischen Republik – damit gilt Pakistan als einer der gefährlichsten Staaten unserer Erde. Die prekäre Sicherheitslage ist jedoch nicht das Einzige, wogegen das Land zu kämpfen hat. Hinzu kommt die desolate wirtschaftliche Situation: So gilt fast jeder zweite Pakistani als arm und kann weder lesen noch schreiben. Keine Bildung bedeutet meist keine Arbeit und damit auch keine Perspektive für die Zukunft: ein Teufelskreis, aus dem nur wenige ausbrechen können. Hinzu kommt, dass die Infrastruktur, vor allem auf dem Land, extrem schlecht ist. Stromausfälle gehören zur Tagesordnung; Naturkatastrophen wie etwa die Überschwemmungen im Sommer 2010 tragen ihren Teil bei.
Auch in politischer Hinsicht ist die Lage angespannt. Seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 erlebte das Land immer wieder Diktaturen und Militärputschs. Erst vor zwei Jahren wurde zum ersten Mal die gewählte Regierung nicht durch einen Staatsstreich abgelöst, sondern durch freie Wahlen: ein Meilenstein in der Geschichte Pakistans. Sogar Frauen sind wahlberechtigt, keine Selbstverständlichkeit in einem islamischen Staat. Von einer stabilen Demokratie ist das Land aber noch weit entfernt.
„Ich habe die Lage dort nicht mehr ausgehalten“, gesteht Iqbal. Als sein Vater schließlich gewaltsam stirbt, keimt in ihm der Gedanke, zu fliehen – und damit schweren Herzens seine Mutter und seine beiden Geschwister zurückzulassen, denn das Geld, das für die Flucht gezahlt werden muss, reicht gerade einmal für ihn: Die gesamten Ersparnisse der Familie zahlt er an einen Schlepper, der ihn nach Europa bringen soll. Das Endziel steht von Anfang an fest: das ferne, sichere, demokratische Deutschland. Im Januar 2012 steht der Abschied von seinen Verwandten an. Ob es ein Abschied für immer ist, weiß Iqbal nicht. Mit einigen Landsleuten macht er sich auf den Weg in eine unsichere Zukunft – per Bus, zu Fuß oder zusammengepfercht in einem LKW.
Überleben um jeden Preis
Der Großteil der Flüchtlinge besteht aus jungen Männern. Diese werden eher auf den extrem gefährlichen und strapaziösen Weg gen Europa geschickt als Frauen, geschweige denn Senioren oder Kinder.
Es gilt: Überleben um jeden Preis. Die nervenaufreibende Flucht erstreckt sich über mehrere Monate; über den Iran kommt Iqbal schließlich in die Türkei. „Manchmal sind wir bis zu 16 Stunden am Tag gelaufen. Wir mussten über das Gebirge, um über die türkische Grenze zu kommen. Es war unglaublich anstrengend.“ Leise fügt er hinzu: „Manche haben es nicht geschafft.“ Mehr möchte er dazu nicht sagen, doch es ist klar, dass diese Leute zurückgelassen wurden. Noch drei Jahre danach fällt es dem jungen Mann schwer, über diese Zeit zu reden.
Erst nach neun Monaten betritt er schließlich das erste Mal deutschen Boden, in Offenbach in Hessen. Wie die anderen Flüchtlinge kommt auch er in das Aufnahmelager in Gießen. Auf dem Weg dorthin trifft er den Mann, der später sein „Bruder“ werden sollte: Nawaz, ebenfalls Pakistaner und geflohen, nachdem er Familienangehörige im Terror verloren hatte. „Wir haben beide unsere Heimat verlassen, als Kinder. In Deutschland angekommen sind wir als Männer. Wir haben viel Schlimmes erlebt auf der Flucht, das uns hat erwachsen werden lassen. Unsere ähnlichen Schicksale verbinden uns“, schildert Nawaz. Sie freunden sich an. Anfang November werden beide in die Asylbewerberunterkunft in Obereichenbach (Ortsteil von Ansbach) verlegt.
Direkt gegenüber der Unterkunft wohnt Sibylla Dütsch. Seit der Eröffnung der Einrichtung hilft die Obereichenbacherin dort mit; sie begleitet Asylbewerber zum Beispiel zu Behördengängen und zu Arztbesuchen. Kurz nach deren Ankunft lernt sie auch Nawaz und Iqbal kennen. „Ich habe sie gleich in mein Herz geschlossen“, erzählt Sibylla und lächelt. „Die beiden fielen mir sofort durch ihre Höflichkeit und Hilfsbereitschaft auf – und das trotz oder vielleicht gerade wegen all der schlimmen Dinge, die sie erlebt haben.“
Von da an unterstützt die 62-Jährige die Jugendlichen beispielsweise bei amtlichen Angelegenheiten wie dem Asylbewerbungsverfahren. Besonders zu Iqbal, dem Größeren der beiden, baut sie dabei eine innige Beziehung auf. „Er hatte sich auf der Flucht beide Füße gebrochen; die Knochen waren falsch zusammen gewachsen. Ich ging mit ihm zum Orthopäden, begleitete ihn zu seinen OPs im Krankenhaus in Rummelsberg und besuchte ihn dort täglich. Später pflegte ich ihn bei mir daheim.“ Auch Nawaz kommt immer öfter zu Sibylla und ihrem Lebensgefährten nach Hause.
Die zwei Flüchtlinge verbringen von nun an mehr Zeit im Haus von Sibylla als in der gegenüberliegenden Flüchtlingsunterkunft, in der sie sich mit jeweils drei Personen 21 Quadratmeter teilen müssen. Sie spielen miteinander, kochen und essen jeden Abend gemeinsam – nach islamischen Regeln. „Für meinen Lebensgefährten muss schon noch Schwein auf den Tisch“, sagt Sibylla lachend. „Ich selbst habe mich aber relativ umgewöhnt. Da meine Jungs ja muslimischen Glaubens sind, ist Schweinefleisch für sie tabu. Dadurch esse auch ich das kaum noch. Stattdessen kommt beispielsweise Sauerkraut, Sauerbraten oder Fleischküchle mit Kartoffelsalat auf den Tisch, denn das lieben Iqbal und Nawaz.“
Dass die beiden gläubige Muslime sind und aus einem ganz anderen, für sie bis dato fremden Kulturkreis stammen, ist für die Hausfrau kein Problem; im Gegenteil. „Die beiden sind eine Bereicherung. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne sie ist.“ Manchmal erkunden sie gemeinsam Ansbach, besuchen den Hofgarten oder gehen in der Innenstadt spazieren. Seit die Residenzpflicht zum neuen Jahr gelockert wurde, dürfen sich die Asylbewerber sogar im gesamten Bundesgebiet aufhalten.
Von Anfang an bringt Sibylla ihren Schützlingen täglich Deutsch bei. Nawaz‘ Muttersprache ist Urdu, Iqbals Muttersprache das damit verwandte Panjabi. Die Sprache zu lernen, sei „ein harter Brocken“, so Iqbal. Sibylla unterstützt sie dabei, besorgt Wörter- und Grammatikbücher. „Sie sind sehr fleißig und lernen schnell. Natürlich machen die beiden noch Fehler und verstehen noch nicht alles, aber man muss bedenken, dass sie bis vor zweieinhalb Jahren kein einziges Wort Deutsch sprachen“, lobt sie die jungen Männer.
Vom Klassenbesten zum Azubi
Besonders stolz ist sie, als „ihre Jungs“ das Berufsintegrationsjahr erfolgreich mit dem Mittelschulabschluss beenden; beide jeweils mit einem Einserschnitt, Nawaz sogar als Klassenbester. Im Berufsintegrationsjahr wurden sie, gemeinsam mit anderen jungen Flüchtlingen, mithilfe von klassischem Unterricht, Sprachförderung und sozialpädagogischer Betreuung auf ein anschließendes Berufsleben vorbereitet.
Zu dieser Zeit konnten sich beide noch eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer vorstellen. Da sie mit ihrem Status aber noch keinen Führerschein machen dürfen, mussten sie sich neu orientieren. Im September haben beide schließlich eine Ausbildung als Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik begonnen, jeder in einem anderen Betrieb. Praktische Arbeit wechselt sich nun mit theoretischen Berufsschulstunden ab. „Ich bevorzuge die Praxis“, sagt Iqbal überzeugt und grinst. Fachbegriffe zu lernen, sei eben noch schwieriger, wenn sie in einer neuen Sprache zu lernen sind. Sibylla Dütsch hofft, dass sich die Berufsausbildung positiv auf das Asylbewerberverfahren auswirkt. „Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass die beiden von ihren Chefs die Chance bekommen, eine Lehre zu machen“, meint sie.
Denn obwohl viele Flüchtlinge nach dem Berufsintegrationsjahr fit für eine Ausbildung wären, ist es eher die Ausnahme, dass jemand eine Lehrstelle bekommt. Für Unternehmen ist die Ausbildung eines Asylsuchenden immerhin mit vielen Unsicherheiten verbunden: Eine ungewisse Zukunft in Bezug auf den Aufenthaltsstatus und mangelndes Wissen über rechtliche Bestimmungen schrecken Betriebe oft ab. Dabei wäre es eine Möglichkeit, dem Nachwuchsmangel entgegen zu wirken: So sind 2014 allein in Bayern 25.000 Lehrstellen unbesetzt geblieben.
Die Betriebe von Nawaz und Iqbal hat es jedenfalls nicht abgeschreckt, dass die zwei Asylbewerber sind und ihre Verfahren noch laufen. Wann die Ergebnisse feststehen werden, ist noch nicht absehbar. Sybillas Wunsch: ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für „ihre Jungs“. „Es belastet uns natürlich, nicht zu wissen, ob sie irgendwann abgeschoben werden“, beschreibt sie die Unsicherheit, die ein ständiger Begleiter geworden ist. „Wir hoffen einfach auf das Beste, wir sind doch eine Familie.“ Nawaz und Iqbal nennen Sibylla sogar „Mam“ oder „Mama“.
Zwischen Zukunftsangst und Familienglück
Bald reift in ihr der Wunsch, Iqbal auch offiziell als Sohn anzunehmen. Lange denkt sie darüber nach, bevor sie mit Iqbal bespricht, was er denn von einer Adoption halte, und auch dessen Mutter um Erlaubnis fragt. Diese lebt immer noch in Pakistan; der Kontakt ist spärlich, aber alle paar Monate telefonieren Iqbal und sie miteinander. Sie ist einverstanden. Auch Sibyllas Lebensgefährte, Freunde und Familie verstehen ihre Entscheidung. „Sie wissen, wie wichtig er mir ist“. Etwas Angst habe sie vor Nawaz‘ Reaktion gehabt. Beide seien wie Söhne für sie, versichert die 62-Jährige, aber zu Iqbal habe sie eine engere Beziehung; außerdem habe sie das Gefühl, er brauche mehr Unterstützung in seinem Leben als Nawaz, der selbstständiger und „westlicher“ sei. „Nawaz hat die Adoptionspläne zum Glück gut aufgenommen“, so die Hausfrau erleichtert.
Wenig später reicht sie den Adoptionsantrag beim Familiengericht ein, doch es ist ein langwieriger Prozess. Immer wieder sind neue Papiere erforderlich. „Dass ich bei meiner Ankunft in Deutschland keinen Pass dabei hatte, macht die Sache natürlich nicht leichter. Weder für das Adoptions-, noch für das Asylverfahren“, erzählt Iqbal. Einen Pass hat er in seiner Heimat nie besessen, genauso wenig wie Nawaz. Das sei nicht unüblich in Pakistan, erzählen beide. Mit nichts außer den Klamotten am Leib waren sie damals die Flucht angetreten. Jetzt, in Deutschland, sind viele Behördengänge zu erledigen, Anträge zu stellen und Papiere zu besorgen. „Das kennen wir von Pakistan gar nicht. Klar ist das manchmal etwas anstrengend, aber es ist gut, dass hier Gesetze etwas gelten. Dadurch ist alles geordnet und strukturiert“, meint Iqbal. Bis die Flüchtlinge in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus Bescheid wissen, versuchen sie, ein möglichst normales Leben zu führen. „Gut integriert, wie man so schön sagt“, schmunzelt Nawaz.
Eine Sache der Ehre
Das schließt Arbeit, Berufsschule, Freizeit mit ein – wie bei anderen jungen Erwachsenen eben auch. Dazu gehört zum Beispiel ihr ehrenamtliches Engagement in der Freiwilligen Feuerwehr Hennenbach (FFW). Jeden zweiten Donnerstag besuchen die angehenden Anlagenmechaniker die Jugendfeuerwehr. Dort lernen sie mit anderen in ihrem Alter, wie man einen Hydranten anzapft oder was bei einem Unfall zu tun ist. „Die beiden bringen sich wirklich gut ein“, bestätigt Mario Schlensog, der 2. Kommandant der FFW. Er ist der Leiter der Jugendgruppe.
Gerade erklärt er dem Feuerwehrnachwuchs technische Details am Löschfahrzeug. Die müssen auch Nawaz und Iqbal draufhaben, wenn sie die Ausbildung zum Feuerwehrmann bestehen möchten. Doch nicht nur das nötige Wissen ist essentiell: „Man muss cool bleiben, wenn es brenzlig wird, und einen klaren Kopf bewahren“, erklärt Mario Schlensog. „Nur so kann man im Ernstfall helfen.“ Und helfen ist das, was Nawaz und Iqbal tun möchten: „Vielleicht werden wir durch unsere Arbeit ja mal Leben retten“.
Je mehr sie zu tun haben – ob im Job, durch Hausaufgaben oder bei der Feuerwehr – desto weniger haben sie Zeit, sich über die ungewisse Zukunft Gedanken zu machen. Oder ihre Heimat zu vermissen. In den Stunden, in denen jeder für sich alleine ist, bricht das Heimweh allerdings regelmäßig durch. „Natürlich denke ich manchmal an mein Zuhause“, erzählt Iqbal mit Wehmut in der Stimme. „Ich bin froh über meine Chance, hier zu leben und zu arbeiten. Ich habe hier eine neue Familie, die ich sehr liebe. Aber meine andere Familie lebt währenddessen in Unsicherheit und Angst. Leider kann ich nichts tun, um das zu ändern.“
Auch Nawaz denkt oft an seine Schwester und an seine Mutter, die Witwe ist, seit ihr Mann bei einem Anschlag ums Leben kam. Viel erzählt er nicht von seinem alten Leben. Dann werde er traurig, sagt er. Bei einem Thema kann er sich dann doch zu einem Lächeln durchringen: „Ich liebe es, zu schwimmen! Karatschi liegt direkt am Ozean. Schon als Kind war ich ständig im Wasser. Ich bin eine Wasserratte, wie ihr Deutschen gerne sagt.“ Ein Meer hat der Südasiate hier in Ansbach nicht. Stattdessen geht er jetzt ins Aquella.
Respekt in jeder Situation
Für die Zukunft wünschen sich die drei nichts mehr, als zusammen zu bleiben. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist bereits getan: Mitte April bekommen sie endlich den Gerichtsbescheid, der besagt, dass die Adoption von Iqbal nun rechtskräftig sei. „Wir haben uns so sehr über das positive Ergebnis gefreut“, erzählt Sibylla. „Jetzt bin ich endlich auch offiziell Iqbals ‚Mam‘.“ Für die zwei Pakistaner ist Ansbach ihr neues Zuhause. Mit den Einheimischen haben sie bislang nur positive Erfahrungen gemacht.
Was ist, wenn sie doch mal auf jemanden stoßen, der negativ gegenüber Flüchtlingen eingestellt ist? „Dann zeigen wir trotzdem Respekt. Ein respektvoller Umgang miteinander ist wichtig“, so Iqbal. „Wir tun alles, um uns zu integrieren, ohne dabei unsere Herkunft zu verleugnen. Wir möchten nur ein gutes Leben führen. So wie die Menschen, die das Glück hatten, hier geboren zu werden.“
Die Geschichte stammt aus viviamo – dem interkulturellen Stadtmagazin für Ansbach (anklicken)